Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Musikfreunde, liebe Freunde des Homburger Sinfonieorchesters,
als Musiker richte ich mein Augenmerk oftmals auf Werke, die dem großen Publikum für gewöhnlich weniger bekannt sind. Es macht mir große Freude, fast vergessene, oftmals unterschätzte Musikstücke, die eben nicht zum Kanon der allseits euphorisch umjubelten klassischen „Meisterwerke“ gehören, zu entdecken, sie auf der Bühne zum Leben zu erwecken und Ihnen, verehrte Konzertbesucher, auf diese Weise Zugänge zu verborgenen musikalischen Schätzen zu ermöglichen. Doch manchmal darf es auch ein Konzertprogramm sein, das die Allergrößten der Musikgeschichte in den Fokus stellt, das die Genies der Kompositionskunst für Sie in den Saalbau holt, und sich auf Stücke konzentriert, die Generationen von Interpreten bewegt haben, und die auch in der Zukunft nichts von ihrer Magie und ihrer Faszination verlieren werden.
Heute Abend erwartet sie ein solches Programm. Mit Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4 und Rachmaninovs Klavierkonzert Nr. 2 haben wir uns an zwei Werke herangewagt, die mit Fug und Recht als „Juwelen der romantischen Musik“ bezeichnet werden dürfen.
Beide Stücke verbindet zunächst eine gewisse Vergleichbarkeit ihres Entstehungskontextes: Sowohl Tschaikowskys Sinfonie als auch Rachmaninovs Klavierkonzert wurden in Lebensphasen komponiert, die durch fundamentale persönliche Krisen der Komponisten geprägt waren. Bei Tschaikowsky fiel die Komposition seiner Sinfonie zusammen mit der schweren Zeit der persönlichen Verunsicherung, die der Musiker unmittelbar nach dem Scheitern seiner Ehe durchlebte. Gewiss war diese Ehe Tschaikowskys nur eine Alibi-Liaison, die dazu dienen sollte, die Homosexualität des Komponisten zu verschleiern. Doch nichtsdestotrotz ist belegt, dass ihr Scheitern den Komponisten in einen Zustand tiefster Verzweiflung stürzen ließ. Erst nach der erfolgreichen Uraufführung des Werks, die Abwesenheit des Komponisten stattfand, gewährte Tschaikowsky seiner Vertrauten und Unterstützerin Nadeschda von Meck, im Übrigen auch Widmungsträgerin der Sinfonie, Einblicke in seine Gefühlswelt und ließ sie an seinem Hadern mit dem Schicksal und seiner tiefen Unglückseligkeit teilhaben. Diese Offenlegung hat in den darauffolgenden Jahrzehnten immer wieder Musiker und Musikwissenschaftler dazu bewegt, in der 4. Sinfonie eine Art autobiographische Programmmusik zu erkennen.
Auch Rachmaninov schrieb sein zweites Klavierkonzert in einer Zeit der Krise. Nachdem seine erste Sinfonie drei Jahre zuvor beim Publikum durchgefallen war, zweifelte der Komponist so sehr an sich und seiner Kunst, dass er den Gedanken hegte, sich vollständig aus der Musik zurückzuziehen. Erst nach einer Kur bei einem Nervenarzt, die ihn – wider Erwarten – aufbaute und stärkte, gelang ihm die Arbeit am 2. Klavierkonzert. Zunächst führte er die beiden letzten Sätze im Jahre 1900 erfolgreich auf, was ihn dann dazu beflügelte, innerhalb weniger Wochen das Konzert fertigzustellen.
Als Solisten konnte das Homburger Sinfonieorchester den preisgekrönten Pianisten Marlo Thinnes gewinnen, der weit über die Grenzen der Großregion hinaus den Ruf, einer der vielseitigsten Pianisten seiner Generation zu sein, genießt. Ich freue mich ganz besonders auf die musikalische Begegnung mit ihm.
Ihnen allen wünsche ich einen spannenden musikalischen Abend.
Ihr Jonathan Kaell